Montag, 28. September 2009
Desaströse Wahlergebnisse
Andererseits ließ sich die Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich nicht davon abhalten, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln. Eine sozialdemokratische Partei, die mit allen Mitteln sucht, ihr marxistisches Erbe und die Verwandschaft mit dem Kommunismus zu leugnen und sich stattdessen rechtsnationalen Parteien annähert und von konservativen Ideen infiltriert wird, hat in meinen Augen jedwede Glaubwürdigkeit verloren, die auch von profillosen Kandidaten nicht zurückgewonnen werden kann. Dieser »Larifari-Kurs«, in den sich die »sozialdemokratischen« Parteien in den letzten Jahren manövriert haben, ist in Wahrheit der Mangel eines ernst zu nehmenden Kurses und somit letztlich das Ende der Sozialdemokraten. Was verbleibt ist allein ein Gespenst, das von wenigen nostalgischen und ratlosen Wählern am Leben erhalten wird, die erkennen, dass die heutige Generation der Sozialdemokraten zwar nichts bewegen, dafür aber immerhin nur wenig falsch machen könne.
Mittwoch, 23. September 2009
Romantischer Materialismus
Auf der einen Seite drängt der materialistische Aspekt nach Wahrheit und erkennt die immer mehr in der Materie selbst. Immer mehr Phänomene können durch die Wirkung der Substanz erklärt werden, wodurch zahlreiche Mysterien ausgelöscht werden. Die konsequente Weiterführung dieser Haltung könnte letztlich zur Reduktion der ganzen Welt auf kalkulierbare, biochemische Prozesse führen.
Wider das Wissen bzw. die Überzeugung, dass der Gang der Welt durch materielle Bedingungen gekennzeichnet und folglich determiniert ist, wird mit der romantischen Komponente ein magischer Trick eingeführt. In der starken Romantik existiert weder Wahrheit noch Lüge, denn die Wahrheit ist dem Menschen nicht zuträglicher, als es die Lüge oder zumindest die verschwommene Wahrnehmung der Wahrheit ist. Wir können also selbst sagen, der romantische Materialismus (oder aufgeklärte Romantik oder Chaos-Materialismus) beruht auf der Annahme eines mechanistischen Weltbildes, das durch die Materie selbst zu einem romantischen Ansatz gedrängt wird. Dadurch wird der romantische Materialismus zu einem durchwegs relativistischen. Er trägt uns nämlich auf, alles in einem romantischen, magischen Lichte zu gewahren.
Die materialistische Gestalt ist der pragmatische Boden des Gedankens. Mein Verstand führt mich mit meinem Überlegen zu der Annahme, dass die Welt mit allen Mitwirkenden einem mechanistischen, deterministischen Prinzip folge. Das Erste bedingt das Zweite und dieses ist die Ursache für das Dritte. Diese Überzeugung muss nun aber nicht mit der Feststellung gleichgesetzt werden, dass somit alles Menschliche verfalle und wir alle einem fatalistischen Handeln folgen sollten. Vielmehr hindert uns das Fatum daran, dergestalt zu leben. Wir wollen die Liebe nicht auf biochemische Prozesse reduzieren. Je mehr wir aber von deren Wahrheit überzeugt sind, desto mehr sind wir gezwungen, die Liebe (oder ähnlich geartete Phänomene) durch unsere Kreativität und Leidenschaft (und unseren Hang zum Selbstbetrug) zu mythologisieren und das Mysterium künstlich herbeizuführen.
Als der materialistische Aspekt als der analytische, »prosaische« gelten kann, so mag man den romantischen Aspekt als den synthetischen, »lyrischen« auffassen, der durch seine ganze Natur zu verzaubern sucht.
Fünf Aphorismen
Ist Privatisierung Diebstahl? – Der Sonnenkönig Louis XVI. wird häufig mit den Worten L’état, c’est moi zitiert, die heute als Inbegriff absolutistischen Staatsverständnisses gelten. Wie, allein, müssten wir diesen Spruch korrigieren, so dass er sich auf die Demokratie bezöge? Ich höre es schon rufen: L’état, ce sommes nous! Wer, wenn nicht das gesamte Volk, solle denn den Körper des Staates in einer Demokratie bilden? Wenn aber wir der Staat sind, so ist auch alles, was staatlich ist unser, ebenso als der Öffentlichkeit gehört, was als öffentlich deklariert wird. Wir sehen schon das glühende Unrecht. Einzelne dürfen nicht verscherbeln, was allen gehört. Gewiss wird man entgegnen, es sei doch das Wesen der Demokratie, Stellvertreter zu wählen, die für das Volk seinen Willen erfüllen; man wird argumentieren, dass wir ja in keinem System der direkten Demokratie leben und dass unzählige Entscheidungen gefällt werden, ohne dass die Legitimität dieses Umstandes angezweifelt würde. Zunächst kann man das große Wort Besitz ist Diebstahl dagegen einwerfen. Gewiss ist das eine reißerische Einschätzung und wird heute in unserer »besitzenden« Welt nicht mehr toleriert. Doch aber wurde jeder Besitz einmal genommen. Solange es der Staat ist, der besitzt, gebraucht er seinen Besitz für seine Ziele, die – weil ja letztlich wir der Staat sind – die Gesundheit der Volkswirtschaft betreffen sollen. Besitz von Privaten wird hingegen für betriebswirtschaftliche Zwecke verwendet. Damit verliert das private Vermögen eigentlich seine Legitimität, zumal häufig volkswirtschaftliche Probleme mit der Privatisierung verbunden sind. Darüber hinaus gerät privater Besitz schnell zum Objekt von Spekulationen und zwar umso mehr, je wertvoller der Besitz ist. Somit wird das Gut nicht nach dem Gebrauchswert, sondern nach einer möglichen Rentabilität am Wertpapiermarkt eingeschätzt. Wenn denn nun wir der Staat sind, so wollen wir – als Kollektiv – wohl auch nur bestimmen, was uns zuträglich ist. Es ist das allein keineswegs, wenn einstmals staatlich geführte Unternehmen nunmehr vernünftiger und rentabler arbeiten. Ganz im Gegenteil: Das alles bestimmende Räderwerk von Angebot und Nachfrage instruiert die Wege. Wenn es Kürzungen gebietet, wird gekürzt. Dem Staat in weiten Teilen die Macht zu nehmen, sozial und gerecht zu sein – das ist Diebstahl.
Nieder mit den Grenzen! – Dergestalt zu rufen gerät man häufig in Versuchung, wenn man einerseits der Reize und Schönheiten fremder Kulturen und Persönlichkeiten, andererseits aber der chauvinistischen und selbstherrlichen Natur vieler Menschen gewahr wird. Man weiß sodann nicht, ob jenen mit Argwohn oder Mitleid zu begegnen sei. Sind sie es doch, die zuweilen mit Stolz, zuweilen aus Ignoranz, dem Gedanken einer Welt einen unüberwindlichen Riegel vorschieben, der selbst den Blick zu den Ausgeschlossenen verwehrt. Dann aber wird Bedauern zum Ausdruck unserer Augen und wir sehen, dass jene Getäuschten die schönsten Gedichte in den Augen der Fremden nicht zu lesen und die schönsten Gemälde in deren Worten nicht zu erkennen vermögen. Die Grenzen niederreißen? Ja sagt mir die Vernunft, die hier als Dienerin meiner Emotionen auftritt: Wo Grenzen sind, wird Ungerechtigkeit herrschen. Sie legitimieren den Besitz und entziehen ihn der gerechten Verteilung. Sie fördern Chauvinismus und Ignoranz, auch solange sie in den Seelen weiterleben. Sie behindern unser Selbstverständnis als ein Volk, das niemanden ausschließt, der dieses Verständnis für sich pflegt. Sie provozieren Zusammenschlüsse, die deren Grenzen umso deutlicher ziehen. Die Grenzen niederreißen? Nein sagt mir denn die Emotion: Geraten wir doch erst durch den steten Widerspruch und stetes Zusagen zu unserer Persönlichkeit. Liebe ich doch das Wort und bin auch unter denen, welche die Zahlen lieben. Lieben wir doch das Fremde und schätzen die Grenzen, weil sie uns ein Tor darstellen, das wir durchschreiten dürfen. Lieben wir doch die Völker hinter den Grenzen und heben zuweilen ihre Fahnen, während wir uns der unseren schämen. Wie also fort? Hin zu einer Welt, in der wir Grenzen lächelnd anerkennen!
Liebe – Liebe ist kein Verdientst, sondern eine Gnade.
Diskussion und Disputation – Das Postulat, die Demokratie funktioniere nicht, scheint mir hinlänglich belegt. Aus dem schlechterdings endlosen Schatz der Argumente will ich nun eines auswählen: Die Demokratie unserer Form unterdrückt ein gesundes Klima der Diskussion und Disputation, anstatt es zu fördern, zumal es der Herdennatur des Menschen widerspricht. Eine ideale Demokratie kann nicht funktionieren, ohne dass das Volk, das per definitionem die Regentschaft trägt, seine Meinung unentwegt überdenkt und durch gegenseitigen Austausch bereichert. Unsere »demokratischen Führer« scheinen diesen Austausch aber keineswegs forcieren zu wollen, sondern suchen vielmehr nach den geeignetsten Trichtern, die sich eignen mögen, Meinungen in die Menschen zu füllen. Gewiss gibt es Diskussion und Disputation, aber nur nach freien Gesetzen. Nur derjenige diskutiert, der es auch tun möchte. Die Regeln einer Diskussion werden selten festgelegt und noch seltener eingehalten. So geraten geplante Diskussionen zu rhetorischen Anstrengungen von wenigen Gehörten und spontane Gespräche zu unbedeutendem Geplauder einer Minderheit. Es ist für die einen gleichsam ein Kampfgespräch, das dem Eigeninteresse entwächst, für die anderen ein schöner Zeitvertreib.
Fragen zur Existenz
Die Frage nach der Existenz irgend gearteter Stoffe wird wohl niemals vollends zu beantworten sein, zumindest wird immer ein Zweifel bestehen, ob etwas wirklich existent sein kann. Es ist bekannt, dass wir letztlich kein Mittel zur unmittelbaren Erfahrung als unsere Sinnesorgane haben und dass hierin der große Fehler bestehen kann. Wir können nicht sagen, wir sähen einen Stein und belegten seine Existenz damit, dass wir ihn berühren und auch fühlen. Es ändert sich schließlich die Methode nicht und letztlich das Mittel genauso wenig. Ich möchte mich allerdings nicht länger in der Beantwortung dieser Frage zerhacken, sondern vielmehr schließen, dass es jedenfalls relative Existenz gibt. Alles, das wir bezeichnen und zu gewahren, fühlen oder hören meinen, hat in uns – unabhängig von der Frage, ob wir selbst, zumindest stofflich, existieren – eine eigenständige Existenz, wenn wir gleich nicht urteilen können, ob ein absolutes Vorhandensein, so es besteht, dieselbe oder eine andere Form hat. Diese eine spezifische, relative Existenz besteht ja allein in dem Individuum und hat sich folglich von seiner absoluten Position gelöst.
Man gerät hierin in die Nähe einer Idee der baskischen Mythologie, welche die Existenz aller bezeichneten Dinge anerkennt. Diesem Postulat möchte auch ich folgen. Alles was einen Namen trägt und folglich bezeichnet wurde, verfügt zumindest über eine relative Existenz im Bezug zu dem Bezeichnenden. Das Attribut relativ beschreibt der Grammatik nach allein die Art der Existenz, vermag aber sein Dasein nicht zu leugnen, wenn nicht genau das sein Inhalt ist: eine negative Existenz. Ein stoffliches Dasein kann folglich allein nicht bewiesen werden.
Und überhaupt ergeben sich hieraus verschiedene neue Probleme. Bedenken wir die Zahlen. Worin besteht folglich die Existenz und weiter die Identität einer einzelnen Ziffer? Dieses Problem kann im Allgemeinen auf viererlei Art und Weise gelöst werden:
- Jede einzelne Zahl, die in irgendeinem Zusammenhang irgendwo vorkommt, hat eine eigene, individuelle Existenz. Folglich hätte die Eins, die diesen Absatz bezeichnet, ein eigenes Sein unabhängig von allen anderen Ziffern. Ein Problem das sich daraus ergibt, ist die Frage, ob auch die entsprechende Ziffer einer Kopie dieses Zettels dieselbe Existenz sei. Ich würde diese Frage negieren, zumal die Definition ihres Bestehens schon eine gemeinsame Identität ausschließt.
- Jede Ziffer erhält ihre Existenz erst durch eine genaue mathematische Herkunftsgeschichte (jede andere Herkunft verfügt gemäß dem Kausalitätsprinzip freilich auch über eine Geschichte; dieser und der erste Punkt fallen also teilweise zusammen). Die Ziffer 7 in der Zahl 2,142857… erhält ihre eigenständige Existenz allein dadurch, dass sie der Division der 15 mit der 7 entstammt.
- Es gibt jede Ziffer nur einmal. Demzufolge ist es dieselbe Ziffer und dieselbe Identität, ungeachtet, ob die Drei hier als Nummerierung der Absätze, als Ergebnis der Errechnung der Quadratwurzel der Neun oder als Teil der Kreiszahl besteht.
- Durch das Bilden einer Zahl verlieren die einzelnen Ziffern ihre Existenz und werden zu einem Bund, zu einer kollektiven Identität und Existenz.
Durch diese Gedanken ergeben sich wiederum namentlich zwei Probleme. Zunächst ist die Frage nach Anfang und Ende des Lebenszyklus einer Ziffer zu stellen. Welche Handlung bezeichnet genau die Genese einer Zahl? Entsteht sie durch einen Gedanken, aus dem sie resultiert? Bedarf sie der Niederschrift? Diese Frage kann man wohl mit dem Verweis auf Ersteres beantworten. Schwieriger ist indes das Rätsel ihres Endes. Vergeht die Existenz einer Ziffer durch einmaliges Löschen? Dass sie durch das Vergessen ende, ist schon aus dem Grunde nicht wahrscheinlich, dass das Vergessen definitiv ein relativer und häufig stufenloser Vorgang ist. Man kann daraus schließen, dass es, wenn man dieser Theorie Glauben schenkte, Augenblicke gäbe, in der die (auch relative) Existenz der Zahlen nicht klar ist. Man kann aber auch die Position vertreten, dass das Dasein einer Ziffer, die einmal bestanden hatte, nicht auslöschbar ist, wofür schon die einmalige Existenz ausreichen kann. Auf das Kausalitätsprinzip hinweisend kann man auch argumentieren, dass das Sein einer Ziffer durch einen Eingriff in die Struktur der Kausalität (der durch das einmalige Auftreten einer Ziffer gegeben ist) bereits eine unendliche Dimension und sie demnach kein »Ende« hat, zumal ein Ende einer nicht organisch strukturierten Existenz ohnehin kontrovers zu diskutieren ist. Auch organische Existenzen gehen häufig mit emotionalen bzw. rationalen einher, deren Frage nach dem jeweiligen Ende getrennt zu beurteilen ist.
Das zweite Problem liegt darin begründet, dass durch die Definition (die existiert, wenn sie bezeichnet wurde), letztlich Wahrheit geschaffen werden kann. Es ist wohl ein zu kleinlicher Gedanke, als dass er Beachtung finden könnte, aber letztlich werden in jedem Lösungsansatz zur Frage der Existenz von Ziffern Wahrheiten postuliert, die durch ihre Bezeichnung zu existieren beginnen. Dementsprechend ist jede Definition (geworden) richtig, was aber wiederum widersprüchlich ist.
Zuletzt kann ich nicht umhin, offen zu legen, dass diese Gedanken eher der Freude am Fragwürdigen als aus einer Notwendigkeit oder einer besonderen Ernsthaftigkeit entstanden sind und ich nicht beanspruche, fehlerfrei geschlossen oder jede Methode richtig angewandt zu haben.
J. M. , September 2008
Fridericus V, Burokrazija 3174